Antragsteller*in: | Landesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne (dort beschlossen am: 12.08.2020) |
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Status: | Zurückgezogen |
D 1: Straftaten gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht in religiösen Institutionen konsequent aufklären und zukünftig verhindern
Antragstext
Straftaten gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht in religiösen Institutionen
konsequent aufklären und zukünftig verhindern
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Schleswig-Holstein setzen sich für eine konsequente
Aufarbeitung der sexualisierten und sexuellen Straftaten innerhalb von Kirchen
und Glaubensgemeinschaften ein. Wir erkennen die Bemühungen u. a. der
Katholischen Kirche in Deutschland, der EKD und des Zentralrats der Muslime an,
den Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt zu verbessern, sehen aber nach wie
vor größeren Handlungsbedarf:
Religiöse Institutionen sind immer noch in sich geschlossene soziale Systeme.
Diese strukturellen Defizite vereinfachen Täter*innen die Ausübung und
Vertuschung von sexualisierter Gewalt. Diesen Befund erbrachte erneut die
umfangreiche Missbrauchsstudie der Universität Ulm aus dem Jahr 2019[1]. Der
Unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung (UBSKM), Johannes-Wilhelm
Röhrig, der die Studie beauftragt hatte, betonte auch in diesem Zusammenhang
wiederholt, dass Skandale zwar das Leid der Opfer sichtbar machten, dass daraus
aber häufig nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen werden.
Daher fordern wir:
- die Landesregierung auf, das Thema sexuelle Straftaten zur Chef*innensache
zu machen und dabei insbesondere religiöse Institutionen in den Blick zu
nehmen. Die Regierung in Nordrhein-Westfalen zeigt, dass und wie dies
möglich ist. In Schleswig-Holstein sehen wir vor allem den
Ministerpräsidenten, die Innenministerin sowie die Justiz- und
Sozialminister in der Verantwortung.
- die „UBSKM-Empfehlungen für die Bundesländer für eine verbesserte
Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und ihre
Folgen“[2] nicht mehr als bloße Empfehlungen zu betrachten, sondern auch
vollständig umzusetzen.
- in Schleswig-Holstein eigens das Amt einer/eines Missbrauchsbeauftragten
für religiöse Kontexte zu installieren. Diese*r soll wie vom UBSKM
gefordert den Rang einer/eines Staatssekretär*in bekommen, und einerseits
als Ansprechperson für Gewaltbetroffene zur Verfügung stehen. Zum anderen
ist es unabdingbar, dass diese Ansprechperson einen Arbeitskreis bildet,
der dem Innenministerium angegliedert ist, aber unabhängig agieren kann.
Zur Bewältigung dieser Aufgaben sind entsprechende Stellen zu schaffen
oder umzuwidmen.
- dass dieser Arbeitskreis mit einer Bedarfs- und Defizitanalyse beauftragt
wird, die er gemeinsam mit Betroffenen erarbeitet. Der Arbeitskreis soll
sich der Aufdeckung von Strukturen widmen, die Straftaten ermöglicht
haben, und im Anschluss einen Maßnahmenkatalog vorlegen, um zukünftige
Straftaten zu verhindern. Der Arbeitskreis soll sich dezidiert mit den
Defiziten und Bedarfen aller Religionsgemeinschaften auseinandersetzen,
die in Schleswig-Holstein registriert sind. Die Mitarbeit der
Vertreter*innen der Religionsgemeinschaften soll zur Voraussetzung
sonstiger Kooperationsangebote seitens des Staates und - sofern möglich -
Bestandteil der Staatsverträge werden.
- die Aufstockung der Kapazitäten bei Polizei, Justiz und
Staatsanwaltschaft(en), die Straftaten wie den sexuellen Missbrauch von
Kindern ermitteln, aufklären und verfolgen.
- die verpflichtende Teilnahme an zielgruppenspezifischen Seminaren zu
sexualisierter Gewalt für alle Beschäftigten bei Religionsgemeinschaften
und regelmäßige verpflichtende Nachschulungen.
- zusätzlich zur bereits bestehendem Meldepflicht sämtlicher Verdachtsfälle
eine Überarbeitung der Archiv- und Dokumentationspflicht. Kirchen und alle
weiteren Religionsgemeinschaften müssen zukünftig verpflichtende Vorgaben
(vergleichbar wie in öffentlichen Einrichtungen der Kinder- und
Jugendarbeit) erfüllen, sodass Strafverfolgungsbehörden nachvollziehen
können ob, wann und bei wem der Verdacht geäußert wurde, dass kirchliche
Beamte oder Angestellte sexuell übergriffig sind oder waren, und welche
Handlungen daraus folgten. Gerade der „Fall Ahrensburg“ und der Umgang des
Landeskirchenamtes damit steht beispielhaft dafür, wie defizitär dies in
den Religionsgemeinschaften gehandhabt wird.
- in allen Verwaltungseinheiten der Religionsgemeinschaften (wie z. B. das
Landeskirchenamt bei der EKD oder das Generalvikariat bei der katholischen
Kirche) müssen staatlich überprüfbare Strukturen und Mechanismen etabliert
werden, welche Verdachtsfälle sicher und gut dokumentiert der staatlichen
Justiz zuführen. Hierbei braucht es eindeutige Zuständigkeiten. Auch diese
Anpassungen sind Voraussetzung für den Abschluss oder die Erneuerung
sämtlicher Staatsverträge.
- unabhängige, spezialisierte Fachberatungsstellen zu stärken, und dabei
Konzepte für alle religiösen Ausrichtungen der in Schleswig-Holstein
vertreten Religionsgemeinschaften zu berücksichtigen.
- von der Landesregierung, darauf hinzuwirken, dass das
Opferentschädigungsgesetz (OEG) endlich konsequent, und ohne weitere
Verschleppungen im Bundesrat verhandelt wird.
- den „Fonds Sexueller Missbrauch“ der Bundesregierung auch für Betroffene
zu öffnen, die in Religionsgemeinschaften sexualisierte Gewalt erlitten
haben.
- die Bereitstellung von Landesmitteln, mit denen Hochschulen
wissenschaftliche Arbeitsgruppen einrichten, die soziale Mechanismen,
Machtstrukturen und Aufklärungshindernisse der Kirchen untersuchen. Mit
solchen Untersuchungen dürfen nicht die Theologischen Fakultäten des
Landes betraut werden.
Begründung
Die Ulmer Missbrauchsstudie[1] stellte fest, dass im Untersuchungszeitraum in einer für Deutschland repräsentativen Studie weit über 200 000 Menschen innerhalb der beiden Großkirchen sexualisierte Gewalt erlitten haben. Heruntergerechnet auf Schleswig-Holstein wären dies allein 7500 Menschen bei uns im Land – das große Dunkelfeld der anderen Religionsgemeinschaften noch gar nicht miteinbezogen. Die WHO vermutet für Deutschland, dass pro Schulklasse ein bis zwei Kinder sexuelle Gewalt erlebt haben und erleben.
Wenn in christlichen Gemeinschaften, Prediger*innen häufig als direkte Gesandte Gottes verstanden werden, in islamischen Gemeinschaften sex. Verhaltensregeln durch Fatwas bestimmt werden, in der Sekte „Jehovas Zeugen“ für jeden Vorwurf der sex. Gewalt ein zweiter Zeuge[2] benannt werden muss, oder in buddhistischen Gemeinschaften 'Ehebruch' als einziges sexuelles Fehlverhalten gesehen wird, ist es naheliegend sich gerade in diesen abgeschlossenen Systemen besonders um Aufarbeitung und Aufklärung sex. Straftaten zu bemühen.
Straffällige Geistliche sind in der Regel keine fixierten Pädophilen, sondern macht-, gelegenheits- und triebgetrieben. Eine Umstrukturierung der Ausbildungen, Anpassung der religiösen Strukturen, vollständige & breite Anerkennung von Homosexualität, mehr Frauen in leitenden Positionen sowie Abschaffung des (katholischen) Zölibats könnten somit voraussichtlich eine Mehrzahl an Straftaten verhindern.
Der bereits erwähnte „Fall Ahrensburg“ hat verdeutlicht, dass das Landeskirchenamt der damaligen Nordelbischen Kirche seiner Archivierungs- und Dokumentationspflicht nicht nachkam. Des Weiteren besteht der Verdacht, dass die Ev. Luth. Landeskirche auch gar kein Interesse an einer wirklichen Aufklärung des Falles zeigt, wie die diversen Interviews mit den Altbischöfin Maria Jepsen und Altbischof Gerhard Ulrich nahelegen. Häufig wurden und werden Gewaltverbrechen bewusst nicht dokumentiert, belastende Vermerke finden sich häufig lediglich zu (kirchen-)politisch missliebigen Personen.
Die evangelische Kirche hat es bis heute nicht geschafft, sich auf Standards für die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen zu einigen, obwohl diese bereits 2018 feierlich angekündigt wurden.[3]
Laut der MGH-Studie[4] beträgt das Hellfeld unter katholischen Geistlichen, die laut Aktenlage offiziell beschuldigt sind, 4,4 % aller Untersuchten, exklusive einer erwartbar hohen Dunkelziffer. Es kann also keineswegs von Einzelfällen gesprochen werden – oder davon, dass nicht (fast) alle im System Kirche Bescheid wüssten. Trotzdem gab es bis heute keine Bischofs-Rücktritte und kaum Anklagen.
In der katholischen Kirche sorgen das Zölibat, keine Meldepflicht an diensthöhere Stellen, ein restriktiver Vatikan, das Verbot von Frauen in Leistungspositionen und eine verklemmte Sexualmoral (Sex ausschließlich für nicht-geistliche, verheiratete heterosexuelle Paare ohne Verhütung, sonst eine Sünde) für eine Verschärfung der ohnehin in christlichen Gemeinschaften vorhandenen Missbrauchsfälle. Fälle werden wenn überhaupt dann in klandestinen (Öffentlichkeit ausgeschlossen) Kirchengerichtsprozessen verhandelt und im „besten“ Fall mit einer Geldstrafe an die eigene Kirche abgehandelt.
Die Täter suchen sich bewusst vulnerable Menschen aus prekären Verhältnissen aus, während Bischöfe und Co. lieber „ihre“ Kirche anstelle der Opfer schützen. Priester gelten als unfehlbare, direkt von Gott Auserwählte, sodass sich Opfer nicht trauen, ihre Erfahrungen zu teilen oder wenn doch sich massivem victim blaming ausgesetzt sehen.
Kirchenvertreter*innen sprechen zudem prinzipiell nicht mit kritischen Journalist*innen, sondern äußern sich wenn überhaupt nur über von ihnen kontrollierte Medien (Kirchenzeitungen etc.) zum Thema Missbrauch.[5]
Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, dass sexuelle und sexualisierte Gewalt auch in allen weiteren Religionsgemeinschaften in der Regel eine mindestens genauso schwerwiegendes, strukturelles Problem darstellt, wie in den beiden großen christlichen Kirchen. Jedoch gibt es hierfür nicht einmal erste Pilot-Studien, sondern vor allem anekdotische Evidenz[6]. Doch die Strukturen sind häufig ähnlich wie in den Großkirchen bis noch deutlich totalitärer und patriarchaler – und somit noch (macht-)missbrauchsfördernder.
Auch gehen wir davon aus, dass Religionsgemeinschaften über die beiden christlichen Großkirchen hinaus einen noch defizitäreren Umgang mit ihrer institutionsinternen Dokumentation pflegen, und genauso wenig Interesse an der Aufarbeitung von Gewalttaten zeigen.
Aus diesem Gründen müssen Wissenschaft und Politik endlich zügig und weiträumig damit beginnen, anhand gut dokumentierter Beispiele – am geeignetsten scheinen dafür solche aus den christlichen Kirchen – grundsätzliche Probleme aufzeigen und diese sowie Lösungen dafür (vor allem gesetzliche Pflichten und interne Umstrukturierungen) auf weitere Religionsgemeinschaften zu übertragen. Um eine Befassung mit allen in Schleswig-Holstein bzw. Deutschland vertretenen Religionsgemeinschaften wird aufgrund ihrer Spezifika und zwecks eines detaillierten Überblicks als Grundlage für weitere politische Maßnahmen jedoch kein Weg vorbeiführen.
Betroffene von sexualisierter Gewalt sind ohnehin eine der vulnerabelsten Gruppen in unserer Gesellschaft. Doch wenn die Gewalt im Kontext einer Religionsgemeinschaft verübt wird, ist es in der Regel noch einmal deutlich schwieriger, dringend benötigte Hilfe zu erhalten. In den Gemeinschaften, die häufig der Denk- und Lebensmittelpunkt der Betroffenen sind, werden sie als „Nestbeschmutzer“ diffamiert und ausgegrenzt. Davor müssen sie die schwierige mentale Hürde nehmen, das ihnen angetane Unrecht überhaupt als solches zu erkennen und vermeintliche Autoritäten und Heilsbringer als Täter zu identifizieren und benennen. Auch gibt es zu wenig Stellen außerhalb der Religionsgemeinschaften, an denen Betroffene unabhängige und kompetente Hilfe und Beratung erhalten können. Für Betroffene aus anderen Kontexten (Familien, Sportvereinen etc.) bestehen mehr und etabliertere staatliche und anderweitig säkulare Strukturen, wohingegen beispielsweise die Kirchen Fälle mit den Betroffenen selbst bearbeiten wollen. Die Betroffenen wenden sich dann entweder gar nicht erneut an die Institution, die dabei versagt hat, sie vor Übergriffen zu schützen, oder erfahren keine bedingungslose Unterstützung.
Schlussendlich braucht es neben noch deutlich mehr und unabhängigeren Fakten vor allem öffentlichen Druck und politische Regelungen für alle Religionsgemeinschaften, damit diese Aufklärung und Umstrukturierungen endlich aktiv angehen, anstatt weiterhin teils schwerste, die Psyche Betroffener zerstörende Gewalttaten zu beschönigen oder gleich zu vertuschen.
[2] Zeuge meint Zeuge, Frauen werden als zweite Zeuginnen nicht akzeptiert https://wahrheitenjetzt.de/jehovas-zeugen-zwei-zeugen-regelung-offiziell-auf-jw-broadcasting-genannt/
[3] Spiegel vom 11.07.2020, Text gerne auf Anfrage
[5] Die Informationen der drei vorherigen Absätze aus https://www.deutschlandfunkkultur.de/katholische-kirche-und-sexualisierte-gewalt-die-blockade.3720.de.html?dram:article_id=470021
[6] Beispiel Buddhismus: https://www.deutschlandfunkkultur.de/missbrauch-in-buddhistischen-gemeinschaften-geblendet-vom.1278.de.html?dram:article_id=441753
https://www.deutschlandfunkkultur.de/machtstrukturen-im-buddhismus-lehrerin-ein-reifezeichen.1278.de.html?dram:article_id=408852
https://www.deutschlandfunk.de/buddhismus-blind-fuer-die-eigenen-fehler.886.de.html?dram:article_id=401088
https://www.deutschlandfunk.de/zen-meister-machtmissbrauch-im-buddhismus.886.de.html?dram:article_id=390389
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Änderungsanträge
- D 1.1 (Lennart Stahl, Zurückgezogen)
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